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Ich

Helena Morgen.

Der Kinderwagen ist nicht neu. 50er, 60er Jahre. 20. Jahrhundert.
Die kleine Helena hat also offenbar schon geraume Zeit im vorigen Jahrhundert gelebt (was uns wiederum eine neue Assoziationskette eröffnet).

Was sehe ich? Keine Luxusvilla! (Schade). Ist das ihr Zuhause? Ein Hof? Nicht gepflastert, unregelmäßige Struktur (kaputt?), mit Bordstein (??), ein Rad steht im Hintergrund, angelehnt. Helena scheint also nicht gerade auf Rosen gebettet zu sein. Ihr Lächeln verrät uns aber, dass es ihr gut geht. Sie sieht entspannt, gut genährt und freundlich aus, unsere Puppenmutti. Sie hat eine Puppe. Die liegt wohlbehütet im Kinderwagen, gut zugedeckt, obwohl es Sommer zu sein scheint (offene Schühchen von Helena, wenn auch mit Socken). Ansonsten gab es zu dieser Zeit in Deutschland (soviel muss verraten werden) nicht so viel Spielzeug wie heute, die Kinder mussten sich selbst was ausdenken. Und meistens gab es noch Geschwister … Weil zu dieser Zeit die Pille noch nicht erfunden war und man nicht glaubte, den „richtigen Zeitpunkt“ erwischen zu müssen. Von wegen social freezing.

Was wir nicht sehen: Helena hat einen Hund. Keinen richtigen. Der Hund ist ein Luftballon und folgt ihr brav auf Schritt und Tritt (an einer Schnur). Und sie hat ein Pferd. Allerdings nur „virtuell“, wie man heute sagen würde. Im Traum. Helena hat auch ein Lieblingshuhn. Nicht ihr eigenes, aber eines, mit dem sie täglich spricht. Das Doggerl. Das gibt es wirklich. Aber sie spricht nicht nur mit Hühnern, Spinnen und Käfern, sondern auch mit Pflanzen. Und mit sich selbst. (Das ist bis heute geblieben).

Welche Zukunft würden wir uns denn für die kleine Helena ausmalen? Wie sieht das Morgen aus? Sie fällt nicht mehr in die Generation, in der die Frauen Mütter waren und sich für Mann und Kinder aufopferten. Sie wird etwas lernen. Die Rollenbilder werden sich (ein wenig) ändern. Sie wird den Kinderwagen erst gegen Roller und Fahrrad, dann gegen Mofa (Velo Solex) und Moped bzw. schließlich gegen ein Auto eintauschen. Sie wird das Gymnasium besuchen, aber am liebsten würde sie „Nichtstuer“ werden, Gammler, wie das damals hieß. Oder Filmstar, was dasselbe zu sein schien. Wenn was Richtiges, dann wenigstens Goldschmied. Was Künstlerisches.

Wer nicht weiß, was er tun soll, geht an die Uni. So auch unsere Helena. Nebenher jobben, das geht. Es gibt genügend Jobs. Als Putzfrau, Sekretärin, Hausbote, Reiseleiterin. In der Stadt. Darmstadt. Frankfurt. München. Oder war es doch Hamburg und Berlin? Deutschland. Das war klein, kleinkariert. Die Karos wurden abgehakt.

Schließlich wird sie ihre Abschlussarbeit an der Uni auf einer Schreibmaschine tippen. Ohne Korrekturband. Doch mit Kugelkopf! Eine IBM Kugelkopf-Schreibmaschine. Der allerletzte Schrei.
Sie wird miterleben, wie sich die Zeit beschleunigt und die Arbeitswelt komplett verändert. Wo vorher ein „Telefax“ mit einem Lochstreifen bedient wurde, werden Nachrichten heute blitzschnell online verschickt. Wo ein Computer (und der Drucker!) so groß war, dass er ein eigenes Zimmer brauchte, genügt heute ein „Pad“ und eine Wolke. Wo man sich früher im Pausenraum beim Kaffeetrinken austauschte, schickt man sich heute eine message.
Und dann: Sitzt Helena acht Stunden in einem Büro? Schwer vorzustellen.

Vielleicht machen wir uns ein ganz falsches Bild von unserer Helena und sie ist in Wahrheit eine verwunschene Prinzessin, die von einem Frosch entführt wurde. Oder vom Zufall. In ein geheimes Land, wo sie auf den Prinzen wartet, der sie wachküsst und ihr die Freiheit schenkt, nach der sie sich immer sehnte. Wie wär´s mit Freelancer? Wo „free“ drin steckt, kann man nicht so falsch liegen … Die große Freiheit.

Soviel steht fest: Unsere Helena wird nach La Gomera geweht. Irgendwann in den 1980ern. „… donde todos los que vienen, se van y regresan, queriéndote más …“ Sie fährt hin und her, ist hin und hergerissen, fragt sich: Was hat das eigentlich mit mir zu tun? Meine DNA habe ich doch immer dabei. Kreislauf. Sie sieht den Blümchen beim Wachsen zu. Wir sind alle Sternenstaub. Schließt sich der Kreis?

Die Insel ist der Ort, an dem sie mit Spinnen (gemeine, beißende), Käfern (cucarachas!) und Hühnern (naja) reden wird, ihre Pflanzen bespricht und ab und zu eine Zeile in ihren Computer tippt, um herauszufinden, wo die kleine Helena ihre Fantasie gelassen hat. Und die Gabe zu lügen wie gedruckt. Denn die kleine Helena konnte das. Und die Große gräbt und gräbt und übt und übt.