Geschichten

erstellt am: 27.03.2021 | Kategorie(n): Aktuelles, Kurzgeschichten, Tipps |

Opa und Tante.

Ich weiß nicht, wovor mein Großvater geflüchtet ist. Vor den Russen. Oder vor seiner Frau. Oder vor beidem. Er floh aus dem heutigen Mecklenburg-Vorpommern, oben, kurz vor der polnischen Grenze. War er überhaupt Flüchtling? Weggelaufen? Keine Ahnung. Als mein Großvater starb, war ich zu jung, um solche Fragen zu stellen. Das gleiche wiederholte sich mit meinem Vater. Keine Fragen. Keine Antworten.

Ich weiß nur soviel: mein Großvater – und später mein Vater – landeten in einem Dorf im Hessischen. In der Rhein-Main-Ebene. Dort hatten die Amerikaner die Hoheit der Alliierten. Er kam, wie viele Flüchtlinge, zunächst privat in irgendeiner Kammer bei wohlmeinenden Menschen unter. Oder gab es eine Stelle, die Quartiere zuteilte? Das weiß ich nicht. Ich erinnere meinen Großvater als einen feschen, stattlichen Mann, wie man das damals gesagt hätte.

Wir Kinder nannten die Vermieter „Ungl“ und „Dant“, Onkel und Tante. Hessisch. Als mein Großvater schon längst aus seiner Flüchtlings-Dachkammer ausgezogen war, bewohnte viele Jahre unsere Familie die Wohnung im ersten Stock des Zweifamilienhauses. Dort wurden meine Schwester und ich geboren. Hausgeburt, damals üblich. Wir Mädchen schliefen in demselben Zimmer wie unser Opa seinerzeit.

Die Vermieter waren Hessen, aus meinen Kinderaugen uralt – und ein Paar, das unterschiedlicher nicht hätte sein können. SIE groß und gertenschlank, die Haare streng nach hinten zusammengebunden, immer auf Achse, immer was zu tun, die Hühner, der Garten, putzen, kochen. Ich erinnere mich genau, dass ich einmal zusehen durfte, wie sie ihre langen, graumelierten Haare kämmte und dann kunstvoll zu einem Knoten zusammensteckte. Ich habe das als eine sehr intime und vertrauensvolle Situation im Gedächtnis abgespeichert. So als hätte man ein gemeinsames Geheimnis.

ER klein und rund. Alles an ihm war rund. Der Körper wie eine Kugel, auf dem eine kleinere Kugel saß, der Kopf. Ohne Haare (gut, ein paar Resthaare waren über die Glatze gekämmt), alles an ihm war kugelig. Bis auf sein spitzes Taschenmesser, mit dem er aß. Ich habe ihn nie mit Messer und Gabel essen sehen, immer nur mit dem Taschenmesser. Er schnitt das belegte Brot in „Muffelscher“, spießte dann ein Häppchen auf und führte es zum Mund. Ich war fasziniert, als Kind. Wenn er nicht gerade Brot aufspießte, saß er am Fenster, auf ein Kissen gelehnt, die Fensterläden halb geschlossen und glotze auf die Straße. Wo sich in der Regel nicht viel abspielte, es war kleines Nest, der Verkehr in den 50ern mäßig, wir Kinder spielten auf der Straße. Die Nachbarin gegenüber war für ihr lautes Organ bekannt und brüllte ab und zu durch Mark und Bein. Das war´s.

Ein wenig Schwung brachten nach dem Krieg sudetendeutsche Zuwanderer, zu denen auch meine Mutter gehörte, in die ländliche Idylle. Gewerbetreibende, Instrumentenbauer, fleißige Handwerker. Sie bauten kleine Siedlungshäuser am Waldrand, gründeten seltsame Vereine wie einen Skiclub, obwohl weit und breit kein Hügel, geschweige denn Schnee in Sicht war und gingen in die falsche Kirche. Sie waren Katholiken. Anstatt Zuckerrüben anzubauen, bastelten sie an einer besseren Zukunft und machten Hausmusik. Im Laufe der Zeit lernten die Alteingesessenen mit den Neuen umzugehen – und umgekehrt.

Der Onkel war angeblich früher Wirt und nun Frührentner. Oder vielleicht war das auch nur eine Geschichte, die man uns Kinder erzählte. Ob und welche Krankheit er gehabt haben könnte, habe ich nie gewusst, ich habe ihn einfach so genommen wie er war. Und ich habe ihn nie wirklich in Bewegung gesehen. Wie er von der Küche zu dem Zimmer, wo er aus dem Fenster schaute, kam, ist mir ein Rätsel.

Wie dem auch sei, mein Großvater landete in der Dachkammer des ungleichen Paares. Wie lange er dort wohnte, weiß ich nicht, er hat später ein Haus gekauft oder gebaut und eine zweite Frau geheiratet. Seine erste, meine Oma, war in der – später  dann – DDR geblieben. Mein Vater hatte zeitlebens ein schlechtes Gewissen, dass er seine Mutter verlassen hatte, um in die Nähe seines Vaters zu ziehen, wo er schließlich meine Mutter kennenlernte.

Eines Morgens, als wir uns für die Schule – ich ging bereits ins Gymnasium – fertigmachten, lief mein Vater aufgeregt und heulend umher. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Er rief immer wieder: „Der Opa ist tot, der Opa ist tot!“ So ganz hatte ich das nicht begriffen, mit dem Tod hatte ich bislang nichts zu schaffen, er war mir unerklärlich, um nicht zu sagen gar nicht vorhanden. Mein Vater war völlig aufgelöst. Mein Opa starb an Lungenkrebs. Mit der Nachricht von seinem Tod hatte der Sohn, das Einzelkind, quasi über Nacht seine Familie verloren.

Ich erfasste in keiner Weise die Tragweite der Ereignisse, ging dennoch reichlich verstört in die Schule. Deutschstunde. Ich wurde aufgerufen, um ein Gedicht zu rezitieren, natürlich auswendig: Theodor Storm, Meeresstrand. „Ans Haff nun fliegt die Möve“ …  Ich wusste nicht einmal die Überschrift, die erste Zeile sagte mir jemand vor, ich schwieg. Mein Gehirn meldete totales Vakuum. Das tut es übrigens bis heute. Ich habe mehrmals versucht, das Gedicht auswendig zu lernen, aber in meinem Hirnraster verfangen sich die Verse nicht. Meer, Inseln, Dämmerung … dafür hatte ich keine Bilder als Kind des hessischen Flachlandes … Ich weiß nicht, ob ich das Gedicht vergessen oder einfach nicht auswendig gelernt hatte, Aufgabe vergessen, keine Ahnung. Ich entschuldigte mich für mein Versagen mit dem Tod meines Großvaters. Tut mir leid, mein Opa ist heute gestorben. Punkt.

Ich versuchte die peinliche Situation so gut es ging zu verdrängen, mein fröhliches Gemüt hatte wieder die Oberhand gewonnen, als ich von der Schule nach Hause kam. Schon im Hof empfing mich meine ältere Schwester mit dem Satz: „die Tante ist tot!“ Ich lachte über den Scherz. Ein Toter am Tag ist genug! Es war kein Scherz. Die Vermieterin, in die Jahre gekommen, mit den grauen Haaren und dem trägen, invaliden Ehemann, hatte die Nachricht vom Tod meines Großvaters erreicht und ist auf der Stelle tot umgefallen. Herzschlag. Ich konnte das alles nicht verstehen. Erst viel, viel später hatte ich 1 und 1 zusammengezählt. Sicher hatten die beiden ein Verhältnis. Die Tante und mein Großvater, der Untermieter. Ja, vielleicht war mein Opa sogar die große Liebe meiner Wahltante. Wer weiß. Sicher war, dass der Tod sie am gleichen Tag geholt hat. Das nennt man Schicksal. Oder so.

Meeresstrand von Theodor Storm

Ans Haff nun fliegt die Möwe,
Und Dämmrung bricht herein;
Über die feuchten Watten
Spiegelt der Abendschein

Graues Geflügel huschet
Neben dem Wasser her;
Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel auf dem Meer.

Ich höre des gärenden Schlammes
Geheimnisvollen Ton,
Einsames Vogelrufen –
So war es immer schon.

Noch einmal schauert leise
Und schweiget dann der Wind;
Vernehmlich werden die Stimmen,
Die über der Tiefe sind.

Buch-Tipp

Ich habe das neue, schwer gehypte Buch von Christian Kracht gelesen. Eurotrash. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1. Auflage 2021

Ich kann mich nur erinnern, dass ich von „Faserland“ seinerzeit sehr beeindruckt war (wenn ich auch gar nicht mehr wüsste, was da drin stand, da müsste ich nachsehen !?!), also dachte ich, lese ich mal, was der Autor von Faserland zu sagen hat (der Protagonist im Buch). Ich habe es erstens ratzfatz durchgelesen (was mir selten passiert) und zweitens genossen. Er schreibt einfach gut, ein Genuss. Die Story kann man finden wie man will, die Aufreger für die Presse (die Vergewaltigungen) sind beiläufig, nicht wichtig, die Kleinigkeiten regen an.

Zitat:
„Manchmal, oft hatte ich mir gesagt, wirklich, dass es kein Anzeichen von seelischer Gesundheit war, sich an eine zutiefst gestörte Familie anpassen zu können. Und wie es mir nur gelungen war, überhaupt jemals gelingen konnte, mich aus der Misere und der Geisteskrankheit meiner Familie herauszuziehen, aus diesen Abgründen, die tiefer und abgründiger und elendiger nicht sein konnten, und ein halbwegs normaler Mensch zu werden,…“
oder
„Und wenn sie nicht meine Mutter gewesen wäre, hätte ich gedacht, hätte ich sie vielleicht gerne kennengelernt.“
oder
„Es war immer die Sprache selbst gewesen, die Befreiung und gleichzeitige Beherrschung der spastischen Zunge, es war das einzigartige Geheimnis gewesen, das in der korrekten Abfolge der Silben steckte.“

Schön ist die Leichtigkeit, mit der Kritik rüberkommt – und die Selbstironie.

Und noch eine kleine Geschichte: Schadenfreude.

Schadenfreude ist die schönste Freude. Deshalb schreibe ich das auf. Für euch. Falls ihr ein wenig Aufmunterung gebrauchen könnt.

Der Tag fing damit an, dass ich im Hof die Scherben aufgekehrte, weil der Wind meine Vase umgefegt hatte und sie zersplittert ist. Naja, kann passieren. Heute Putztag. Muss eh aufräumen.

Das mit den Scherben (bringen die wirklich Glück?, na dann!) ging so weiter: beim Staubwischen ist meine einzigartige Keramikhenne auf die Porzellanfigur geknallt. Wie habe ich das gemacht? Ich passe doch auf, normalerweise. Porzellan in Splitter, Henne hat einen gebrochenen Haxn. Ist eine extra für mich gemachte Keramikfigur einer befreundeten Künstlerin. Ein Unikat! Nicht aufregen, Helga. Alles vergeht, auch du lebst nicht ewig.

Die Putzaktionen gingen unfallfrei zu Ende. Bis zum Termin habe ich noch Zeit, ich könnte einen Kuchen backen. Prima. Mein Kühlschrank ist so brechend voll (ja, ich müsste ihn mal ausmisten!), dass mir beim Herausholen der Butter die Oliven auf den frisch gewischten Küchenboden kullern. Die am Markt teuer erstandenen gemischten, eingelegten Olilven! Alles ölig. Die Oliven überall, ich suche unter den Schränken. Schaden behoben, alles wieder aufgewischt. Kühlschrank abgewischt. Kein Problem.

Ich schiebe den Kuchen in den Ofen. Vorgeheizt, alles gut. Ich räume ein wenig zusammen in der Küche. Mein Backofen macht aber heute komische Geräusche und mein Kuchen duftet bereits nach fünf Minuten. Was ist da los? Gottseidank schaue ich nach: ich hatte auf „Grill“ gestellt. Ich habe noch nie probiert, einen Kuchen zu grillen anstatt zu backen und möchte es auch diesmal nicht. Ich schalte zurück auf den richtigen Regler. Ich wollte keinen „Marmor“kuchen mit knusprig gegrillter schwarzer Außenhülle. Vorsichtshalber decke ich die schon gut angebräunte Oberfläche in der Form mit Alufolie ab, um die Auswirkungen (hoffentlich) einzudämmen.

So ein Kuchen braucht ja seine Zeit. Zwischenzeitlich spüle ich ab bzw. ich will abspülen. Ja, nicht lachen, ich spüle per Hand! Nichts geht mir, die Brühe staut sich. Der Abfluss ist verstopft! Prima. Das hat gefehlt. Ich werkele mit meinem Vakuum-Stampfer (wie heißen die Dinger?) und die ganze Sch… kommt mit Schwung seitlich am Waschbecken heraus und verteilt sich auf meine ebenfalls frisch geputzte Spüle und Ablage. Danke. Das war nötig. Aber der Abfluss ist frei. Sehr gut. Ich getraue mich nicht, einen Blick auf den Kuchen zu werfen. Wer weiß, was das gibt – am besten, ich schaue nach, wenn die Zeit um ist und rechne mit dem schlimmsten. Oder? Cool down, baby.

wie heißt dieses Ding?


Ich gehe zu meinem Kleiderschrank, will mir Klamotten rauslegen. Nach den ganzen Putzaktionen werde ich erstmal duschen, wenn der Kuchen fertig ist. Doch: Was ist das an meiner Fensterscheibe? Sind das Käfer? Fliegen? Es wuselt. Getier. Ekelhaft. Ich putze, morde, reibe. Wo kommen die her? Sie werden immer mehr. Ich habe das Gefühl, sie vermehren sich unter meiner Hand. Animiert durch das schöne Wetter, vermutlich. Vom Winterschlaf aufgewacht, wie unsereins. Schließlich greife ich entnervt zu Gift. Das mache ich sonst nie! Ich hab´s aber. Ende. Jetzt wird durchgegriffen! Jetzt reicht´s!

Das beeindruckt in der Regel die Viecher kein bisschen. Morgen sind sie sicher wieder da. Oder in fünf Minuten. Aber ich schaue heute nicht mehr nach.
In meinem Kalender steht: Sachlichkeit ist heute Ihr Schlüssel zum Erfolg. Also.

Jetzt die obligatorischen Zitate …

„Das Rezept für Gelassenheit ist einfach: Man darf sich nicht über Dinge aufregen, die nicht zu ändern sind.“ Helen Vita.

„Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Schutzmauern, die anderen bauen Windmühlen.“  Asiatische Weisheit

„Der Ärger ist als Gewitter, nicht als Dauerregen gedacht; er soll die Luft reinigen und nicht die Ernte verderben.“ Ernst R. Hauschka

„Wir leben alle unter dem gleichen Himmel, aber wir haben nicht alle den gleichen Horizont.“ Konrad Adenauer (kann man nicht oft genug sagen)

„Wenn wir die Welt von unseren Schultern nehmen, erleben wir, dass sie nicht fällt.“ John Cage