Massentauglich?

erstellt am: 30.08.2024 | Kategorie(n): Aktuelles, Tipps |

Alle reden über Tourismus.

Wien ist voller Touristen. Bestimmte Lokale vergeben „time-slots“. Je nach Konsumation läuft die Zeit ab und dann wird man hinausgeworfen. Time out. Der Nächste, bitte! Die Zeiten, wo man im Kaffeehaus drei Stunden bei einem kleinen Braunen sitzen konnte und die internationalen Zeitungen studieren, sind wohl vorbei. (Nagut, nicht überall). Vor dem Café Central stehen stetig lange Schlangen. Was steht da in den Reiseführern, dass JEDE/R da rein muss? (Ach, bin ich blöd, nicht Reiseführer, Instagram!). Ich weiß es nicht. Und ich weiß auch nicht, wie die BesucherInnen abgefertigt werden. Gemütlich kann das nicht sein. Die meisten Länder kennen ja Gemütlichkeit nicht (nichtmal das Wort). Und bei uns geht dieses spezielle Lebensgefühl gerade flöten.

Geht man in ein Geschäft (ich war in einer Parfümerie im 4.), wird man auf Englisch angesprochen (wie übrigens fast überall in Berlin, vor allem in den Kneipen/Restaurants). Die Verkäuferin war aber sehr erleichtert, als ich ihr auf Deutsch antwortete. Tourismus kann auch anstrengend sein.

Wie ist das? Gehen dann die „Einheimischen“ (wie das klingt) weniger aus? Oder nur in die Randbezirke? Es wird zudem alles teurer. Durch die Medien geistert öfter das Wort „Tourismus-Phobie“. Vor allem in Mallorca stinkt es den Menschen, die dort leben, dass alles teurer wird, die Wohnungen nur noch zu horrenden Preisen kurzfristig an Urlauber vergeben werden und alles überall überfüllt ist. Übertreibung?

Man beugt Missverständnissen vor

Spanien meldet einen Besucherrekord nach dem anderen.

Die Daten. Auf den Balearen sind die Mietpreise von 2011 bis 2024 um 100% (!) gestiegen. Heißt: die Mieten haben sich verdoppelt. (Bitte mal selbst auf die eigene Miete anwenden, sofern man zur Miete wohnt). In Madrid 40%, in Malaga 60% (El País 28.7.24). Der Quadratmeterpreis für Wohnungen in Malaga ist von € 1.515 im Juli 2014 auf € 3.016 Euro im Juni 2024 gestiegen (113%). Angeblich haben zwischen 2015 und 2020 über 36.000 Personen unter 40 Jahren Malaga verlassen. Weil sie sich die Stadt nicht mehr leisten konnten. (?) Fast die Hälfte des Einkommens geht für die Miete drauf. Dafür gibt es über 12.000 Ferienwohnungen, sogenannte viviendas vacacionales – für Touristen.

Im El País Semanal (28.7.24) wird ein Beispiel angeführt. 2014 machte Javier Serrano, ein Fotograph aus dem Baskenland, ein Foto von einem idyllischen, verlassenen Strand auf Mallorca, Caló d’es Moro. Weißer Sand, türkises Wasser, Felsen. 2018 lud er das Foto auf Instagram hoch unter dem Namen Yosigo. 2020 kam eine Ausstellung in Südkorea dazu, weitere „influencer“, die Sache bekommt Dynamik im Internet. Heute pilgern Touristen aus aller Welt an diesen mittlerweile überfüllten Strand, um ein Foto zu machen.

2023 kamen 85 Millionen internationale Touristen nach Spanien. 2 Millionen mehr als vor der Pandemie, 2019. Dieses Jahr rechnet man mit 90 Millionen. Das ist doppelt soviel wie Spanien Einwohner hat. Nur von Januar bis Mai ist die Ziffer um 11,5% gestiegen. Aber nicht nur die Besucher werden mehr, auch die täglichen Ausgaben der Touristen steigen (8,6%). Das liegt u.a. an den gestiegenen Preisen. Ein Artikel im Wirtschaftsteil der El País (4.8.24) erklärt das so: 1. konnten die Leute in der Pandemie kein Geld ausgeben, haben also was gespart und 2.  glauben viele, die „verlorene“ Zeit/den entgangenen Urlaub nachholen zu müssen. Reisen/Urlaub habe eine andere Priorität gewonnen – es werde lieber auf andere Dinge (Kleidung?) verzichtet …

Wo ist die Grenze für den Massentourismus? Einmal sind da die Auslastungen der Hotels, der Unterkünfte und die Kapazitäten der (vor allem) Flughäfen. In manchen Gegenden kollabiert der öffentliche Verkehr (Busse in Mallorca oder auf den Kanaren sind chronisch überfüllt) und zum anderen der Unmut der Menschen, die in Tourismus Hotspots leben. In Barcelona will man die Ferienwohnungen verbieten, woanders führt man Tourismussteuern ein.

Außerdem wird der Tourismus zunehmend unabhängig von der Jahreszeit (entsaisonalisiert). Das hängt auch mit dem Klimawandel zusammen. Regionen, die früher nicht attraktiv erschienen wegen des „schlechten Wetters“, werden jetzt plötzlich interessant (zum Abkühlen).

Und dann die Migration …

Kaum landet ein Flüchtlingsboot in Lampedusa, wird das in den Medien gemeldet. Auf den Kanaren sind zwischen 1. Januar und 15. Juli 2024 genau 19.793 Migranten „angeschwemmt“ worden, 160% mehr als im Vorjahreszeitraum. Davon spricht niemand. Ich möchte nicht wissen, wie hoch die Ziffer derjenigen ist, die es nicht bis auf die Inseln geschafft haben.

Neulich (7.8.24) gab´s die Nachricht, dass in der Dominikanischen Republik ein Flüchtlingsboot mit 14 halbverwesten Leichen anlandete. Migranten aus Somalia und Mali, die mindestens fünf Monate unterwegs waren (also, das Boot). Kein Sprit, nichts zu essen, nichts zu trinken. Wenn sie die letzte kleine Kanareninsel (El Hierro) verpassen, war´s das (wenn sie nicht entdeckt und gerettet werden). Sie starten meist in Mauretanien und werden von den Schleppern nur mit dem Nötigsten ausgestattet.

Solche Fotos schaffen es auf die Titelseite der El País.
Die Kanaren streiten mittlerweile mit dem Festland und der EU, wer die 5.000 unbegleiteten Minderjährigen, die nicht zurückgeschickt werden dürfen, betreuen soll. Großes Politikum.

Trotzdem:

Lachen ist eine körperliche Übung von großem Wert für die Gesundheit.

Aristoteles

Buch-Tipp

Wilhelm Genazino. Bei Regen im Saal. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2014. 158 Seiten.

Manchmal liegen Bücher so herum und warten auf den richtigen Zeitpunkt. Ich bin großer Fan von Wilhelm Genazino und trotzdem war das kleine Büchlein lange in der Warteschleife. Jetzt habe ich es endlich gelesen. Bei Regen im Saal. Ist aus 2014 (2018 ist er gestorben). Es gibt niemanden, der Alltäglichkeiten in so geschliffene Sätze packen kann. Man denkt, es geht um nichts und merkt dann, dass es eigentlich um tiefgreifende Themen geht. Verwahrlosung (geistige und körperliche), gesellschaftliche Anerkennung (Äußerlichkeiten), berufliche Karrierechancen-/wünsche (muss ich was werden?), Beziehungen zwischen Mann und Frau, Altern, Verfall.

Ich weiß nicht, wann er das geschrieben hat, aber 2014 war er 75. Der Protagonist (übrigens „Überwinder“) ist Mitte 40 oder so … Man merkt aber die Perspektive des (wirklich?) alten G.
Ich muss zwar immer wieder lachen über seine Gedanken und die Lektüre ist anregend, aber als Stimmungsaufheller kann man sie nicht verwenden.

Beispiele:

„Ich wollte über nichts nachdenken, machte mir aber trotzdem Gedanken, warum mir Gelassenheit manchmal gelang und manchmal nicht.“ S. 5

„Ich fühlte mich allmählich alt und zunehmend unfähig, meine Probleme zu lösen. Ich nannte sie meine sogenannten Probleme, um über sie besser lachen zu können. Ich wollte meine sogenannten Probleme nicht einmal mehr untersuchen.“ S. 33

„Beatrix kannte ich aus der Zeit, als Frauenretten noch eines meiner Hobbys war.“ S. 34

„Nächste Woche würde ich die Dame treffen, die ich im Theater kennengelernt hatte. Sie hatte mir gestanden, dass sie an Kultursucht litt. (…) Die Dame war vermutlich ein harter Fall wie die meisten, die mit Kultur zusammenhingen.“ S. 47 f