Schlüsselerlebnisse

erstellt am: 28.11.2022 | Kategorie(n): Aktuelles, Kurzgeschichten |

Trügerisches Gehirn?

Sie legte den Hausschlüssel immer zwischen die beiden Autositze, vorne, auf die kleine Ablage. Automatisch. Man steigt ins Auto, wirft den Schlüssel hin – und nimmt ihn erst wieder heraus, wenn man sich in der Garage eingeparkt hat und nach Hause geht.

Der Schlüssel war eigentlich viele Schlüssel. Für zwei Häuser. Jeweils zwei, mindestens (Gedächtnis!), bis hin zum Vorhängeschloss des Abstellraums und Briefkastenschlüssel. Alles dran. Damit diese Schlüssel nicht verschwinden können, waren sie an einem auffällig bunten Band befestigt, das man sich um den Hals hängen kann – zur Sicherheit. Dann gab es noch einen Karabinerhaken, um die Schlüssel mit Leichtigkeit zu erweitern oder zu reduzieren. Und einen jahrealten Schlüsselbund mit einem Karneol-Stein, klein, rund, Handschmeichler.

An diesem Abend fuhr sie in die Garage, gegen 20 Uhr, blickte auf den Schlüsselbund mit dem gemusterten Stoffband und dachte „ach, den lass ich liegen, ich gehe ja erst noch ins Lokal, meine Freunde treffen. Ich hole ihn mit den Einkäufen auf dem Rückweg aus dem Auto.“ Zumindest glaubte sie sich später an einen solchen Gedankenblitz zu erinnern. Aber was weiß man. Man bildet sich ja eine Menge ein. Und das Gehirn macht sowieso was es will. Sie nahm also nur den Autoschlüssel mit und ging ins Lokal zu den Freunden, die sie bereits erwarteten.

Zwei Stunden saßen sie da, aßen, tranken, lachten. Dann ging sie zurück zum Auto, um die Einkäufe und den Haus-/Wohnungsschlüssel mitzunehmen. Keine Schlüssel. Einkäufe ja, alles da, aber keine Schlüssel, kein Band, kein Schlüsselanhänger. Sie suchte alles aus, kroch auf den Knien herum, ob vielleicht etwas unter dem Sitz lag – nein. Gottseidank hatten die Nachbarn einen Zweitschlüssel und sie konnte ihre Eingangstüren aufsperren. Merkwürdig, dachte sie. Dann habe ich sie wohl irgendwo liegen lassen. Sie schlief gut, in dieser Nacht.

Am nächsten Tag klapperte sie alle Stellen ab, wo sie gewesen war. Im Supermarkt. Keine Schlüssel abgegeben. Bei den Freunden. Nichts. Sie suchte alle Taschen und Jacken ab, ging wiederholt zum Auto, um es zu durchsuchen, telefonierte herum, ob jemand die Schlüssel gesehen habe. Fundbüro. Fehlanzeige.

Liebe Mitmenschen haben immer gute Ratschläge parat: „Der taucht wieder auf – da, wo du  es am wenigsten vermutest.“ Sie schaut in den Kühlschrank. Nichts. „Der ist bestimmt neben dem Sitz reingerutscht. Lass mal jemand anderen schauen, manchmal ist man verblendet.“ Ja. Freunde durchwühlten das Auto. Vergeblich.

Sie überlegte. Wo war ich überall. Wo kann ich diese verdammten Schlüssel hingelegt haben. Ihr fiel der Blitzgedanke („die nehm ich später mit“) wieder ein. Sie sah deutlich die Schlüssel mitsamt der Schnur und allem Drum und Dran vor Augen, wie sie friedlich zwischen den beiden Autositzen lagen. Trugschluss des Gehirns? Kann ja gar nicht sein. Sie waren ja weg! Nicht da. Und dann die etwas beunruhigende Frage: Kann sie jemand aus dem Auto genommen haben? Und: Hatte ich das Auto abgeschlossen? Doch dazu spuckte das Gehirn nur „ich kann mich nicht erinnern“ aus. Alles ist möglich.

Sie hatte ein etwas ungutes Gefühl. Schlüssel weg. Trügerische Erinnerung an den Schlüsselbund. Keine Erinnerung, ob das Auto abgeschlossen war oder nicht. Wer hätte ein Interesse daran, alle ihre Schlüssel zu klauen? Und was macht er/sie damit? Gibt es einen Zufall? Der „Täter“ hatte ein Zeitfenster von zwei Stunden – von der Ankunft bis zum Nachhauseweg. Der Zufall wäre groß – und die kriminelle Energie auch. Das Auto stand in einer dunklen Ecke. Wer kommt auf die Idee, dass da ein Schlüssel im Auto liegt? Die anderen, die ihr Auto in der Garage haben, kommen nicht an ihrem Auto vorbei. Man sieht also nicht zufällig, im Vorbeigehen, dass da ein Schlüssel liegt. Man müsste schon Licht anmachen, hingehen und bewusst hineinsehen. Wer kommt auf eine solche Idee?

Das kam ihr so absurd vor, dass sie weiter die These vertrat, sie hätte sich das eingebildet und die Schlüssel würden irgendwann und irgendwo wieder auftauchen. Vielleicht in ihrem Briefkasten? Sie sah täglich hinein. Sie hängte einen Zettel aus mit ihrer Telefonnummer, falls sich ein ehrlicher Finder finden würde. Sie versuchte das zu vergessen, drehte noch ein paar gedankliche Pirouetten, konnte aber nachts gut schlafen. Prima.

Eine Woche später. Gleiche Szene. Sie parkte ihr Auto, nahm alle Schlüssel mit (Ersatzschlüssel)!, ging ins Lokal, um ihre Freunde zu treffen. Gute zwei Stunden, dann kam sie (mit dem Hausschlüssel) daheim an. Sicherheitsschloss. Sie steckte den Schlüssel hinein, öffnete. Sie musste den Schlüssel noch einmal herumdrehen. Es war abgesperrt! Sie sperrte diese Tür nie zu, sondern ließ sie nur ins Schloss fallen, wenn sie ging. Noch so ein Automatismus. (Man konnte ja sowieso nicht rein). Langsam wurde es gruselig.

Die Grenzen verschwimmen zwischen: Was mache ich automatisch (Tür nicht zusperren und Schlüssel zwischen die Sitze werfen). Woran erinnere ich mich (lagen die Schlüssel wirklich noch im Auto? Hatte ich das Auto verschlossen)? Nach dem Verschwinden der Schlüssel hatte sie am nächsten Morgen bemerkt, dass sie das Auto offen gelassen hatte. Sie war ja auch ein wenig verwirrt. Aber ihr Gedächtnis wollte ihr nicht preisgeben, wie das am Vorabend war.

So. Jetzt. Wer hatte ihre Schlüssel? Wer hatte sie beobachtet? Wer wusste, dass sie nicht zu Hause war, obwohl ihr Auto in der Garage stand – oder wollte er (sie dachte jetzt ER) sie heimsuchen und ging enttäuscht wieder? Es war offensichtlich nichts angerührt, es fehlte nichts. Die Gehirnmaschinerie war angeworfen. Ein Perverser? Ein Feind? Wer wollte ihr – und was – zeigen? Was soll das? Rufe ich die Polizei? Mache ich Wirbel? Und wenn jetzt nachher jemand eindringt?

Das war auf jeden Fall zuviel. Ein unlösbares Rätsel.

Sie beschloss, nicht mehr darüber nachzudenken und tauschte am kommenden Tag alle Schlösser aus. Ein teurer Spaß. Wollte er das?

Ist das denn erlaubt?

Lebensklugheit bedeutet: Alle Dinge möglichst wichtig, aber keines völlig ernst zu nehmen.

Arthur Schnitzler