Es war nicht klar, ob Yvonne trauerte oder einfach nur traurig war. Ihre Gesichtszüge waren schwer zu interpretieren. Aber es war deutlich zu spüren. Einsamkeit. Das Gefühl, das sich einstellt, wenn man alleine ist. Manchmal. Und bei manchen. Denn: Sich einsam fühlen kann man auch in Gesellschaft. Aber das war´s wohl nicht. So kompliziert war sie dann doch nicht gestrickt. Ihre ganze Körpersprache drückte es aus: Ihr fehlte ihr Partner. Sie waren jahrelang zusammen und nun war er weg. Sie verstummte nach und nach, kein freudiger Laut kam mehr aus ihrer Kehle. Sie fing an, sich selbst zu verletzen. Früher quatschte sie herum, diskutierte lautstark mit ihrem Lebensgenossen, auch wenn wir das nicht verstanden. Sie plapperte gerne nach, schien vergnügt. Jetzt sieht sie mich schräg von der Seite an, als wolle sie mir einen Vorwurf für ihre Situation machen. Sie nickt auffordernd mit dem Kopf. „He, du da, mach´ endlich was, siehst du nicht, dass es mir schlecht geht?“. Und dann ein Schrei, herzzerreißend. Ja. Natürlich hatte ich ein schlechtes Gewissen. Was sollte ich tun? Meine Versuche sie aufzuheitern, waren kläglich gescheitert. Soziale Wesen sind nunmal soziale Wesen. Und einen neuen Lebensgefährten herbeizaubern, konnte und wollte ich nicht. Meine Anwesenheit genügte ihr nicht, das stimmte auch mich traurig.
Bis ich mir Rat holte.
Die Lösung war ganz einfach. Da hätte ich draufkommen können. Aber irgendwie gingen die zwei Welten in meinem Kopf nicht zusammen. Technik und Tier. Manchmal ist es gut, jemanden um Rat zu fragen. In diesem Fall für uns beide. Also kaufte ich ein günstiges Tablet, richtete eine Verbindung zu einer Videokonferenz ein und los ging´s. Jetzt hatte sie Gesellschaft. Wenn auch virtuell. Sie konnte das Gerät selbst bedienen, ich staunte. Und sie plauderte in den Bildschirm hinein, hüpfte vergnügt herum und war nicht zu bremsen. Am anderen Ende der Leitung vergnügte sich ein Artgenosse. Er hieß Artur und lebte in der Tierhandlung. Loro, ein Papagei. Vielleicht tauschten sie gerade ihre Erfahrungen in dieser seltsamen Welt der Menschen aus, die trotz aller Annehmlichkeiten (Essen gratis) grausam war, obwohl die Menschen immer die beste Absicht beteuerten – und träumten von einer gemeinsamen Zukunft, Familiengründung und ein gemeinsames Leben im Dschungel. Den konnte man doch vielleicht als Hintergrund einstellen, oder?
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PS: Papageien (Grauer Loro, Kakadu) werden depressiv, wenn sie nicht unter ihresgleichen leben, alleine sind. Sie entwickeln seltsame Verhaltensweisen und psychische Störungen. Wissenschaftler:innen in den USA (um Rebecca Kleinberger) haben herausgefunden, dass Dreiviertel der 18 getesteten Tiere positiv auf Videokonferenzen reagieren. Wenn die/der andere aus dem Bild läuft, sehen sie hinter dem Gerät nach, wo sie/er abgeblieben ist. Nach einer Einführung konnten die Vögel die Chats selbständig starten, indem sie mit dem Schnabel das Tablet bedienten. Sie können auch Anrufe ablehnen (!) Sie plaudern und singen koordiniert. Das vermindert Stress und hebt die Stimmung. El País 6. Mai 2023.
Humor ist der Knopf, der verhindert, dass uns der Kragen platzt.
Joachim Ringelnatz
Deshalb gleich hinterher der Buch-Tipp Mariana Leky: Kummer aller Art. Dumont. (Ich finde keine Jahresangabe!?) Es sind alles kürzeste Kolumnen, die in „Psychologie Heute“ erschienen waren. Sehr zu empfehlen. Klug, witzig, toll geschrieben.
Links Original Miró, derzeit in der Albertina zu bewundern (von vielen Menschen, deshalb konnte ich das Foto nicht frontal aufnehmen) und rechts die Kopie auf meinem armen Schmuckkasten.
Ich wollte hier eigentlich erklären, warum ich Fan von Kopien und von Wiederholungen bin, aber das muss ich verschieben.
„Kreative Prozesse beginnen bekanntlich damit, dass man verunsichert ist, dass man keine eindeutige Lösung findet und dass man diese Verwirrung aushält.“
Verena Kast (siehe unten)
Was mich verwirrt? Technik.
Mein Mobiltelefon möchte mich nicht mehr über neue Nachrichten informieren. Obwohl ich alle Einstellungen überprüft habe. Dafür behauptet es, meine ID würde gerade von einem neuen Handy verwendet. Ein Anruf aus Tansania geht ein. Und eine Spam-Mail mit übelsten Unterstellungen und Erpressungsversuchen (keine Details, diese Bilder möchte man nicht im Kopf haben).
Und dann die KI (künstliche Intelligenz), AI (artificial intelligence). Ich staune.
Erst lese ich, dass die Algorithmen mittlerweile so weit sind, dass sie Stimmen täuschend echt synthetisch herstellen können. So, dass die Emotionen, die mit der Stimme verbunden sind, mit übertragen werden. Aus mit der blechernen Computerstimme. Verschiedene Firmen (Respeecher, Ukraine; Voikers) benutzen das für Filme, Podcasts, Hörbücher – aber wenn man das weiterdenkt, kann man jede Stimme klonen … und … Am weitesten/perfektesten ist man in Englisch. Man rechnet damit, dass das „Audio“ (wie man z.B. bei WhatsApp sieht), die Sprachnachrichten, in den kommenden Jahren zunehmen werden … Heute haben podcasts global 621 Millionen Zuhörer:innen im Jahr. (Markt: 1 Mrd. Dollar).
Also: sprechen statt schreiben. (El País 29.5.2022)
Auf der anderen Seite: Sprechen stirbt auch aus. Also, selber sprechen, zum Beispiel am Telefon. 80% der jungen Menschen (zwischen 14 und 24) haben Angst, am Telefon zu sprechen (El País 28.1.23, la extinción de las llamadas). Die direkte Stimme ist impaktstark. Und: Man muss direkt/sofort reagieren. Damit sind offensichtlich viele überfordert (wie überhaupt die Sozialphobien zunehmen). Ich schicke auch lieber schnell eine Nachricht als dass ich anrufe! Man stört nicht (denkt man) und zwingt den anderen nicht zu einer sofortigen Reaktion (glaubt man).
Angeblich kostet ein Anruf zuviel Zeit, sagen 75% der Jugendlichen (Umfrage 2022 „Generation Mute“ Millennials Phone Call Statistics de BankMyCell), 64% wollen den Kontakt mit lästigen Mitmenschen vermeiden, 80% fürchtet Störungen und „verbale Konfrontationen“. Bei einem Telefonat weiß man vorher nie, wie lange es dauern wird – bei einer Sprachnachricht sieht man es vorher. Dabei ist erwiesen, dass ein (kurzer) Anruf und direkter Kontakt genau diese Ängste besänftigt. Telefonieren macht ein wenig glücklicher. Die Stimme des/der anderen zu hören, beruhigt. Ein Gespräch von ca. acht Minuten kann therapeutische Wirkung haben (Studie 2021, Uni Harvard). Vorschlag: vorher ausmachen, wann/ob man telefonieren will und wie lange (acht Minuten, haha). Soziale Interaktion ist kein Luxus, sondern wichtig für das mentale Wohlbefinden, physische Gesundheit und trägt zu einem langen Leben bei, sagt die Harvard-Studie. Eine andere Harvard-Studie (Thema Glück) sagt, dass Menschen in „einsamen“ Berufen, also ohne Kolleg:innen, unglücklicher sind. Kolleg:innen machen glücklich. Und – statt dass die anderen einen vom Arbeiten abhalten, zeigt sich, dass, eher im Gegenteil, man produktiver arbeitet. Also: Gespräche müssen her! (Voraussetzung: man wird nicht gemobbt)
Papier und Stift?
Gut, am Rande: verschiedene Studien legen ebenso nahe, dass der Kontakt mit Papier und Stift in manchen Fällen besser ist als das iPad oder der Computer … Wir scheinen in einer Übergangsphase des Physischen zum Digitalen zu sein.
Analoge Technik ist ja gerade wieder „in“: Platten, Kamera mit Film usw. Also: Stift in die Hand nehmen, macht uns produktiver (ach, deshalb ist mir nichts eingefallen!).
Und ein haptischer Kalender macht die Daten einprägsamer. Kommt das Revival der gedruckten Kataloge? Man weiß ja, dass der Inhalt von Büchern, die man digital liest, nicht so gut haften bleibt als hätte man das Buch in der Hand gehabt … Und Erinnerung läuft über Multisensorik. Heißt: je mehr Sinne beteilgt sind, umso besser erinnern wir uns später daran. Aber wer weiß, wie lange noch … denn jetzt gibt es ja, tata! ChatGPT.
ChatGPT
ChatGPT nimmt uns jetzt auch das Denken ab. Hat man eine Frage, googelte man. Bisher. Und man musste die Zusammenhänge selbst herstellen bzw. schreiben. Jetzt gibt man die Frage bei ChatGPT ein und bekommt wohlformulierte Sätze geliefert: Lehrer:innen suchen ihre Aufgabestellungen für Prüfungen mit ChatGPT und die Schüler:innen und Student:innen schreiben ihre Arbeiten damit. (Ich übertreibe). Plagiat? Schwer festzustellen. ChatGPT liefert immer neue Antworten/Sätze/Formulierungen. Je nach Fragestellung, sprich: Prompt. Prompt ist die Befehlszeile für das Programm, wer´s noch nicht weiß. Aber mittlerweile ist das ja Thema in allen Gazetten.
Ganz zu schweigen von den Programmen, die Texte in Bilder umwandeln (ChatGPT und Dall-E bzw. Midjourney). Wenn man damit allerdings wirklich gute Bilder rauskriegen will, erfordert das auch viel Wissen, Gespür und Arbeit. Prompt Writer sind gefragt und verdienen viel Geld. Neben dem Original von Vermeer Die Frau mit den Perlenohrringen im Rijksmuseum in Amsterdam hängt angeblich seit kurzem eine „Kopie“, mit KI generiert …
Ganz normal mit einer Kamera aufgenommen …
Gut, aber zurück zu den Texten. Ich habe ChatGPT gefragt:
„Schafft ChatGPT das Denken ab?“ Antwort: „Nein, ChatGPT schafft das Denken nicht ab. ChatGPT ist ein computergestütztes Sprachmodell, das darauf trainiert wurde, menschenähnliche Antworten auf Eingaben von Benutzern zu generieren. Obwohl ChatGPT in der Lage ist, menschenähnliche Antworten zu generieren, hat es keine eigene Intelligenz oder ein eigenes Bewusstsein.
Das Denken bleibt ein wichtiger Bestandteil des menschlichen Wesens, einschließlich der Kreativität, Vorstellungskraft und Reflexion. ChatGPT kann als ein Werkzeug zur Unterstützung des menschlichen Denkprozesses genutzt werden, indem es Informationen liefert, Denkanstöße gibt oder die Gedanken von Benutzern herausfordert. Jedoch kann ChatGPT das Denken nicht ersetzen, da es selbst nicht über eine eigene Perspektive oder eigene Erfahrungen verfügt, die notwendig sind, um komplexe Entscheidungen zu treffen oder kreativ zu sein.
Es ist wichtig zu betonen, dass ChatGPT auch seine Grenzen hat und nicht in der Lage ist, komplexe Aufgaben zu lösen oder menschliche Fähigkeiten wie Emotionen, Intuition oder Empathie zu replizieren. ChatGPT ist ein Werkzeug, das uns helfen kann, aber es ist immer noch der menschliche Geist, der die kreativen und komplexen Denkaufgaben löst.“
Zitat Ende. (Danke, lieber Hans). So, jetzt wissen wir´s. Werbetexter könnten die Ergebnisse von ChatGPT nicht einsetzen. Zu lang. Zu geschwafelt. Man müsste den Prompt ändern. Vielleicht in: Sag mir das in kurzen Worten für Werbetexte. Das habe ich (noch) nicht probiert …
Dann, natürlich, nochwas
Es wird viel geredet über die Ethik der Künstlichen Intelligenz. Eine neue Ethik muss her! Im „Le Figaro“ hat Eric Sadin einen sehr emotionalen Artikel veröffentlicht (Abdruck El País 26.2.23), in dem er darauf hinweist, dass uns jetzt die KI vorschreibt, wie wir unsere Worte wählen und Sätze formulieren sollen. Er meint, wir würden von der Wirtschaft ständig manipuliert bzw. auf einen von ihr bestimmten Weg geführt und wir fänden das „ganz normal“. Wir (die Gesellschaft) reagierten nur noch, die „Industrie“ zwingt uns dauernd was auf (z.B. ständige Updates, Anmerkung von mir). Nennt sich Innovation. Ziel: Geld lukrieren. Unsere Fähigkeiten uns auszudrücken und unsere Autonomie gehen in dem Maße flöten wie die wachsende Automatisierung fortschreitet. Ohne dass jemand einschreitet (Gesetze). Meint Sadin.
Tja, und was denken wir?
Wenn Chat GPT einen Aufsatz in eine Power-Point-Präsentation verwandeln kann – wunderbar. Her damit! Es ist wie bei vielem (Fernsehkonsum für die Alten, Internetkonsum für die Jüngeren): Es kommt drauf an, was man draus macht. Kluger Einsatz von Medien erfordert allerdings eine gewisse (eigene) Intelligenz und Bildung (so wie Humor auch). ChatGPT selbst warnt ja davor, dass man ihr nicht 100% trauen kann und es auch fehleranfällig sei. Das zu überprüfen, müsste dann jeder selbst übernehmen. Wenn man natürlich das Hirn abschaltet (was gerade modern ist), bleibt nur … die Emotion. Und wo Emotionen hinführen, wissen wir …
Eine Emotion: Angst.
Hier ein kluger Podcast mit Verena Kast. Sie hat schon in den 90er Jahren ein Buch geschrieben „Vom Sinn der Angst“. (Herder, Freiburg (Basel, Wien), 8. Auflage 2021. Jetzt aktueller denn je.
Wer etwas über „Individualismus“ erfahren will: Rüdiger Safranski. Einzeln sein. Eine philosophische Herausforderung. Hanser Verlag, München, 2. Auflage 2021. Liest sich gut, man lernt eine Menge. Über Geschichte und Philosophie.
Humor ist die Medizin, die am wenigsten kostet und am leichtesten einzunehmen ist.
Es ist still. Ich meine still, richtig still. Lautlos. Man hört nichts. Kein Rauschen. Keine Menschen. Kein Hundegebell. Stille ist unheimlich. Schwer auszuhalten. Man möchte nachsehen, ob die Welt noch steht. So richtig still ist es meistens nachts. Natürlich nur dann, wenn man nicht in einer Stadt lebt, die nie schläft. Da gibt es zumindest ein Grundrauschen (Verkehr, Autobahn), Menschen sind unterwegs, die U-Bahn fährt.
Für solche Menschen scheint es nahezu unerträglich zu sein, wenn sie nichts hören. Nichts. Deshalb gibt es auf You Tube (oder wo sonst auch immer) „brown noises“. Das hat angeblich nichts mit der Farbe Braun zu tun (ich denke sofort an eine braune Suppe), sondern geht zurück auf den bedeutenden schottischen Botaniker Robert Brown. Wikipedia:
„Im Jahr 1827 machte Brown beim Mikroskopieren seine bekannteste Entdeckung, die Brownsche Bewegung. Diese unaufhörliche und regellose Bewegung kleinster, in Flüssigkeit schwebender Teilchen wurde erst 1905 von Albert Einstein und 1906 von Marian Smoluchowski als physikalischer Prozess aufgeklärt, der auf zufälligen Häufungen molekularer Stöße aus verschiedenen Richtungen beruht.“
So.
Ich weiß nicht, ob das die Pflanzen waren, die sich da bewegt haben.
Die Geräusche hören sich an wie kontinuierlich fallender Regen oder … (selber suchen).
Wiki: „Die Brownsche Molekularbewegung entspricht zum Beispiel einem 1/f²-Rauschen. Trotzdem ist, da auch andere Arten von Rauschen mit Farben bezeichnet werden („weißes Rauschen“ oder 1/f-Rauschen als „rosa Rauschen“), auch die Bezeichnung braunes Rauschen verbreitet.
Also.
Die Spanier machen es sich einfach, wie immer. Sie übersetzen einfach „ruido marrón“ (braunes Geräusch) und schon ist Mr. Brown aus dem Spiel.
Früher hat man sich die Goldberg-Variationen angehört, wenn man sein Gehirn auf Ruhemodus stellen wollte. Ich glaube, es sind die Delta Wellen, die auf der niedrigsten Frequenz „arbeiten“, im Bereich von 0-3 Hz. Dort erreicht man den unbewussten Bereich – wie im traumlosen Tiefschlaf, wo die körperliche Regeneration stattfindet.
Heute schaltet man You Tube oder Spotify an und hört „brown noises“. Um besser zu lernen, um sich zu konzentrieren, das Baby in den Schlaf zu wiegen, zu meditieren oder um einschlafen zu können. Zadie Smith, die bekannte Schriftstellerin, benutzt angeblich brown noises zum Schreiben.
Wiki: „2007 und 2020 wurde eine positive Wirkung von Rotem Rauschen in Zusammenhang mit ADHS und Produktivität am Arbeitsplatz publiziert und wurde seit 2022 auf sozialen Medien viral verbreitet.“
Placebo-Effekt nicht ausgeschlossen. Man hört eben andere, ablenkende Geräusche nicht und der Tinnitus wird Nebensache.
Auf TikTok hat der Hashtag „brown noises“ mehr als 86 Millionen klicks.
Ich sage jetzt dazu nichts mehr. Ich lausche der Stille.
Was ist das? Erklärung gesucht … Das ist … Keramik-Kunst
Güte ist, wenn man das leise tut, was die anderen laut sagen.
Friedl Beutelrock, wer immer das war/ist
Jetzt kann ich´s ja veröffentlichen … Portraits anders (Ai Weiwei)Das ist Grau.
Sie legte den Hausschlüssel immer zwischen die beiden Autositze, vorne, auf die kleine Ablage. Automatisch. Man steigt ins Auto, wirft den Schlüssel hin – und nimmt ihn erst wieder heraus, wenn man sich in der Garage eingeparkt hat und nach Hause geht.
Der Schlüssel war eigentlich viele Schlüssel. Für zwei Häuser. Jeweils zwei, mindestens (Gedächtnis!), bis hin zum Vorhängeschloss des Abstellraums und Briefkastenschlüssel. Alles dran. Damit diese Schlüssel nicht verschwinden können, waren sie an einem auffällig bunten Band befestigt, das man sich um den Hals hängen kann – zur Sicherheit. Dann gab es noch einen Karabinerhaken, um die Schlüssel mit Leichtigkeit zu erweitern oder zu reduzieren. Und einen jahrealten Schlüsselbund mit einem Karneol-Stein, klein, rund, Handschmeichler.
An diesem Abend fuhr sie in die Garage, gegen 20 Uhr, blickte auf den Schlüsselbund mit dem gemusterten Stoffband und dachte „ach, den lass ich liegen, ich gehe ja erst noch ins Lokal, meine Freunde treffen. Ich hole ihn mit den Einkäufen auf dem Rückweg aus dem Auto.“ Zumindest glaubte sie sich später an einen solchen Gedankenblitz zu erinnern. Aber was weiß man. Man bildet sich ja eine Menge ein. Und das Gehirn macht sowieso was es will. Sie nahm also nur den Autoschlüssel mit und ging ins Lokal zu den Freunden, die sie bereits erwarteten.
Zwei Stunden saßen sie da, aßen, tranken, lachten. Dann ging sie zurück zum Auto, um die Einkäufe und den Haus-/Wohnungsschlüssel mitzunehmen. Keine Schlüssel. Einkäufe ja, alles da, aber keine Schlüssel, kein Band, kein Schlüsselanhänger. Sie suchte alles aus, kroch auf den Knien herum, ob vielleicht etwas unter dem Sitz lag – nein. Gottseidank hatten die Nachbarn einen Zweitschlüssel und sie konnte ihre Eingangstüren aufsperren. Merkwürdig, dachte sie. Dann habe ich sie wohl irgendwo liegen lassen. Sie schlief gut, in dieser Nacht.
Am nächsten Tag klapperte sie alle Stellen ab, wo sie gewesen war. Im Supermarkt. Keine Schlüssel abgegeben. Bei den Freunden. Nichts. Sie suchte alle Taschen und Jacken ab, ging wiederholt zum Auto, um es zu durchsuchen, telefonierte herum, ob jemand die Schlüssel gesehen habe. Fundbüro. Fehlanzeige.
Liebe Mitmenschen haben immer gute Ratschläge parat: „Der taucht wieder auf – da, wo du es am wenigsten vermutest.“ Sie schaut in den Kühlschrank. Nichts. „Der ist bestimmt neben dem Sitz reingerutscht. Lass mal jemand anderen schauen, manchmal ist man verblendet.“ Ja. Freunde durchwühlten das Auto. Vergeblich.
Sie überlegte. Wo war ich überall. Wo kann ich diese verdammten Schlüssel hingelegt haben. Ihr fiel der Blitzgedanke („die nehm ich später mit“) wieder ein. Sie sah deutlich die Schlüssel mitsamt der Schnur und allem Drum und Dran vor Augen, wie sie friedlich zwischen den beiden Autositzen lagen. Trugschluss des Gehirns? Kann ja gar nicht sein. Sie waren ja weg! Nicht da. Und dann die etwas beunruhigende Frage: Kann sie jemand aus dem Auto genommen haben? Und: Hatte ich das Auto abgeschlossen? Doch dazu spuckte das Gehirn nur „ich kann mich nicht erinnern“ aus. Alles ist möglich.
Sie hatte ein etwas ungutes Gefühl. Schlüssel weg. Trügerische Erinnerung an den Schlüsselbund. Keine Erinnerung, ob das Auto abgeschlossen war oder nicht. Wer hätte ein Interesse daran, alle ihre Schlüssel zu klauen? Und was macht er/sie damit? Gibt es einen Zufall? Der „Täter“ hatte ein Zeitfenster von zwei Stunden – von der Ankunft bis zum Nachhauseweg. Der Zufall wäre groß – und die kriminelle Energie auch. Das Auto stand in einer dunklen Ecke. Wer kommt auf die Idee, dass da ein Schlüssel im Auto liegt? Die anderen, die ihr Auto in der Garage haben, kommen nicht an ihrem Auto vorbei. Man sieht also nicht zufällig, im Vorbeigehen, dass da ein Schlüssel liegt. Man müsste schon Licht anmachen, hingehen und bewusst hineinsehen. Wer kommt auf eine solche Idee?
Das kam ihr so absurd vor, dass sie weiter die These vertrat, sie hätte sich das eingebildet und die Schlüssel würden irgendwann und irgendwo wieder auftauchen. Vielleicht in ihrem Briefkasten? Sie sah täglich hinein. Sie hängte einen Zettel aus mit ihrer Telefonnummer, falls sich ein ehrlicher Finder finden würde. Sie versuchte das zu vergessen, drehte noch ein paar gedankliche Pirouetten, konnte aber nachts gut schlafen. Prima.
Eine Woche später. Gleiche Szene. Sie parkte ihr Auto, nahm alle Schlüssel mit (Ersatzschlüssel)!, ging ins Lokal, um ihre Freunde zu treffen. Gute zwei Stunden, dann kam sie (mit dem Hausschlüssel) daheim an. Sicherheitsschloss. Sie steckte den Schlüssel hinein, öffnete. Sie musste den Schlüssel noch einmal herumdrehen. Es war abgesperrt! Sie sperrte diese Tür nie zu, sondern ließ sie nur ins Schloss fallen, wenn sie ging. Noch so ein Automatismus. (Man konnte ja sowieso nicht rein). Langsam wurde es gruselig.
Die Grenzen verschwimmen zwischen: Was mache ich automatisch (Tür nicht zusperren und Schlüssel zwischen die Sitze werfen). Woran erinnere ich mich (lagen die Schlüssel wirklich noch im Auto? Hatte ich das Auto verschlossen)? Nach dem Verschwinden der Schlüssel hatte sie am nächsten Morgen bemerkt, dass sie das Auto offen gelassen hatte. Sie war ja auch ein wenig verwirrt. Aber ihr Gedächtnis wollte ihr nicht preisgeben, wie das am Vorabend war.
So. Jetzt. Wer hatte ihre Schlüssel? Wer hatte sie beobachtet? Wer wusste, dass sie nicht zu Hause war, obwohl ihr Auto in der Garage stand – oder wollte er (sie dachte jetzt ER) sie heimsuchen und ging enttäuscht wieder? Es war offensichtlich nichts angerührt, es fehlte nichts. Die Gehirnmaschinerie war angeworfen. Ein Perverser? Ein Feind? Wer wollte ihr – und was – zeigen? Was soll das? Rufe ich die Polizei? Mache ich Wirbel? Und wenn jetzt nachher jemand eindringt?
Das war auf jeden Fall zuviel. Ein unlösbares Rätsel.
Sie beschloss, nicht mehr darüber nachzudenken und tauschte am kommenden Tag alle Schlösser aus. Ein teurer Spaß. Wollte er das?
Ist das denn erlaubt?
Lebensklugheit bedeutet: Alle Dinge möglichst wichtig, aber keines völlig ernst zu nehmen.
Las señoritas de Aviñón (1907), Les demmoiselles d’Avignon, das Original von Picasso, gilt als Initialwerk des Kubismus. Es hängt im MoMA in New York. Das erste Mal 1908 ausgestellt (bei Daniel-Henry Kahnweiler) in Paris, unfertig, dauerte es eine Weile, bis Mode-Designer („modista“/Schneider) Jacques Doucet das Bild kaufte. Für 25.000 Francs. Lächerlich. Es geht das Gerücht, dass Doucet gefragt hat, ob er das Bild günstiger haben könne, es sei so hässlich. Man tat sich wohl schwer mit dem Kubismus, zumindest kommerziell. (André Breton hat später das Werk gekauft …).
Das hier ist eine Kopie. Oder wie nennt man das, wenn einer bewusst ein Bild „kopiert“? Der Amerikaner Mike Bidlo hat es 1984 gemalt und „Not Picasso“ genannt. (Lest selbst).
warum lässt sich der korrekte Ausschnitt nicht speichern?
Alle reden übers Wetter. Ein sehr einfühlsamer und vielschichtiger Film von Annika Pinske, die bei dem Film „Toni Erdmann“ Regieassistenz gemacht hat. Gelungener Debütfilm. Pinske wurde in der Uckermark geboren. Die Protagonistin, gespielt von Anne Schäfer, kommt aus dem akademischen Milieu von Berlin in das Kaff ihrer Kindheit, um den Geburtstag ihrer Mutter zu feiern. MeckPomm. Ich hatte ein Déjà-vu. Selber anschauen, es wird nix gespoilert (wie das ja jetzt so schön heißt).
Das einfache Leben. Wie man sich das so vorstellt. Man sitzt irgendwo auf dem Land. Und alles wird einfach. Einfach so. Man fährt die Energie herunter, hat keine Termine, muss nirgendwohin. Man genießt die vermeintliche Natur, die weite Sicht, Sonnenauf- und untergänge, geht spazieren, was auch immer. Ja, man genießt sogar den fehlenden Luxus „Ich brauche nichts!“, keine Klimaanlage, keine Luxus-Kaffeemaschine, keine Putzfrau (naja, da wird’s vielleicht schon schwieriger). Hängt alles davon ab, wie lange man bleibt.
Kurze Ausflüge in das einfache Leben sind schön. Längere Ausflüge werden schon komplizierter. „Hier gibt’s ja gar nichts“. Und sollte man sich langfristig, ganz, für das „einfache Leben“ entscheiden, stellt man fest, dass das einfache Leben weder einfach noch leicht ist. Sondern sehr aufwändig, zäh und herausfordernd. Nur weil man im Supermarkt nicht aus 100 Joghurts auswählen kann/muss, wird das Leben nicht einfacher. Oder zumindest nicht viel. Diese Erkenntnis stellt sich jedoch erst nach geraumer Zeit ein.
Die zweite Seite der Medaille sieht man erst, wenn man sie umdreht. Das kann eine Weile dauern, weil man sich an der glänzenden Seite vorerst nicht sattsehen kann. Doch dann passiert es. Und man bemerkt es. Da ist noch was. Und besser: Da ist nichts. Keine U-Bahn, die alle paar Minuten fährt. Kein Supermarkt am Eck. Keine Konditorei, keine frischen Brötchen in der Früh. Keine Post, keine Bank, kein Kino, kein Theater. Wenn man besonderes Pech hat, kein WLAN. Keine Radwege.
Ja, man hat etwas eingetauscht. Die Hektik gegen die Langsamkeit (manchmal seeeehhhr langsam, alles). Die Überforderung gegen die Suche nach Anregungen. Die Freunde gegen Menschen, die anders ticken als man selbst. Die Oberflächlichkeit der Begegnungen weicht der Notwendigkeit zur Kommunikation.
Das neueste „Werk“ ist fertig …
Im einfachen Leben, weg von der Stadt, ist der Schlüssel zum Überleben das Sprechen. „Im Reden kommen die Leut’ z’amm“. Es sei denn, man ist Eremit oder soooo weit weg, dass man keine Menschenseele trifft – unwahrscheinlich. Es ist unabdingbar, mit den Leuten zu sprechen, die dort schon lange wohnen. Und nicht nur mit den „Zugereisten“, den „Stadtflüchtlingen“, mit denen, die so drauf sind wie wir.
Und dann wühlt man sich durch die Vorurteile, Gerüchte, durch die skeptischen Blicke. Seltsamerweise leben an den idyllischsten Orten die merkwürdigsten Menschen mit den seltsamsten Ansichten. Je nachdem, wo man gelandet ist – und ob Berge rundherum sind – hat man vielleicht Glück und findet ein paar offene Gemüter, die einem weiterhelfen. Hat man mal angedockt, geht es nach und nach voran. Und ja, tatsächlich: Die Eingeborenen werden freundlicher, teils richtig herzlich, lächeln. In bestimmten Gegenden lebt noch die alte Tradition, dass sich die Leute auf der Straße grüßen. Ohne Grund! Niemand vermutet etwas dahiner … Man bleibt sogar stehen und wechselt ein paar sinnlose Worte.
Das benötigt allerdings Zeit. Eine Menge Zeit. Und Geduld. Viel Geduld. Dann kann es passieren, dass der Handwerker für eine Kleinigkeit kein Geld will, man in der Kneipe eine Tüte/Sackerl Pflaumen geschenkt bekommt oder beim Spazierengehen vom Weinbergbesitzer auf ein Glas eingeladen wird. Es passiert das, was wir vielleicht früher als normal angesehen hätten. Die Menschen sind menschlicher (ich hätte nicht gedacht, dass dieser Satz irgendwann mal einen Sinn ergibt).
Und ja – das wiegt alles auf, was manche vielleicht als Mangel empfinden. Wir sehen das, was da ist und nicht das, was wir nicht haben (können). Die Schönheit der kleinen Dinge, die Schätze, die vor unseren Füßen liegen. Wie immer sie aussehen mögen. Und den Achtsamkeitskurs schenken wir uns. ZP Juli/August 2022
Zitat dazu von Klaus Löwitsch: Zum Glück gehört, dass man irgendwann beschließt, zufrieden zu sein.
Und noch eins, von Joan Collins (!): Wenn das Leben dir Zitronen gibt, mach Limonade daraus.
Und was die Kommunikation angeht, wusste schon Wilhelm von Humboldt: Im Grunde sind es immer die Verbindungen mit Menschen, die dem Leben seinen Wert geben. Verbinden wir uns. Anstatt uns zu bekriegen.
Das Leben rückwärts sortieren. Geht nicht. Zeitfresser. Ich habe beschlossen, nach vorne zu denken. Die Restzeit zu nutzen anstatt sie mit Doku vergangener Zeiten zu verplempern. Ist natürlich falsch. Mit „Geschichte“ verplempert man keine Zeit. Menschen, die versuchen alles mögliche (eigentlich ja nur Vergangenes, schließlich ist die Gegenwart schon vorbei, wenn ich das denke) in Bezug auf sich selbst, zur Welt, zu den anderen und zur Umgebung zu setzen, also wohl ich, haben ständig (mehr) zu tun. Die Vernetzung spinnt einen ein in ein immer dichter werdendes Gewebe (ich sage jetzt nicht „komplex“) – bis man nicht mehr durchblickt. Also ich. Ich scheue mich, mich in die Reihe der gerade modernen „Ich-Autoren“ (haha, habe ich Autor gesagt?) einzureihen, merke ich gerade. Ich merke aber auch, dass es fast nahezu unmöglich ist, eine andere Perspektive zu wählen.
Vertrackt
So, jetzt aber genug damit. Das war gerade eine vertrackte Einleitung (um nicht zu sagen, mich drumherum zu winden) für das, was jetzt kommt. Ein historisches „Gedicht“, wenn man es denn so nennen will, diese paar Zeilen. Das wirklich Merkwürdige daran ist, dass es aus dem Jahr 2008 stammt. Den Reim darf man sich selbst drauf machen.
(Apropos, das Ding ist so gut wie original – also peinlich – die besonders peinlichen Stellen habe ich aber gehobelt, sorry. Es waren genau zwei. Man muss sich ja nicht noch mehr blamieren). Danke für das Verständnis.
Der Wald. Ein Vorwurf.
Du hast mich lange nicht beachtet. Und trotzdem war ich immer da.
Für dich bestand ich virtuell. In Schlagzeilen der Zeitung, als der saure Regen kam. Wer spricht heute noch davon? Mein Überlebenswille funktioniert in aller Stille.
Du zogst das Licht der Städte vor. Während mein buntes Herbstlaub heimlich strahlte.
Dort schätzt man geistige Getränke. Und nicht den Geist, der nur im Märchen spukt.
Die Pilze, die auf meinem Boden wachsen, selbst diese wurden ausgelagert. In eigene Kulturen. Worte wie Halbwertzeit hinterlassen ihre Spuren.
Es wurden viele Äste abgesägt, manchmal auch der, auf dem man saß. Ich wurde oft genug verheizt, das ließ dich alles völlig kalt.
Man stopfte mich mit Fichten voll, die kahlen Stellen zu kaschieren. Ich litt an Käfern, Parasiten, Viren. Ich weiß, die Zeiten ändern sich. Auch ich muss das kapieren.
Doch irgendwann wendete sich das Blatt. Du hast die Stadt satt und kommst mich ab und an besuchen.
Du siehst das frische Grün des Mooses, du spürst das Laub unter den Füßen. Du hörst die Vögel in den Bäumen und isst von Beeren, die helle Wege säumen. Es riecht nach Freiheit. Du nimmst ein Bad in meinen Armen.
Deine Gedanken lässt du fliegen, die Sinne in den Zweigen wiegen. Und plötzlich erkennst du mich in jedem Ding. Im Papier. Im Pinsel. In den Formen. In den Farben. Ich bin die Luft in deinen Lungen. Mit jedem Atemzug bist du – dem Wald so nah.